Die Porträts der Lettow-Mappe

in neuer Sicht

Obwohl deutsche Kolonialherrschaft von Gewalt und Menschenverachtung gekennzeichnet war, hält sich in der Öffentlichkeit vielfach eine gegenteilige Sicht: die „Legende vom deutschen Kolonialidyll“, wie Ralph Giordano in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts kritisierte, ist noch heute verbreitet – deutsche Kolonialgeschichte ein blinder Fleck der Allgemeinbildung.

 

Erst seit zwei Jahrzehnten rückt die historische Aufarbeitung deutlicher aus dem Schatten von Nationalsozialismus und Holocaust, in dem sie lange stand. Vor dem Hintergrund von Migration und der „Black-lives-matter“-Bewegung erhält die Auseinandersetzung mit dem kolonialen Blick zusätzliche Dringlichkeit.

 

Die Zeit ist reif, auch in der Kunst und ihrer Betrachtung eingefahrene Wahrnehmungsmuster zu hinterfragen. Die koloniale Bilderwelt funktioniert ästhetisch bis heute. Dabei sie war zu schön, um wahr zu sein.

 

Auch die Porträts aus der Lettow-Mappe (1921), einer Porträtreihe mit zehn Bildnissen von Menschen aus der ehemaligen Kolonie Deutsch-Ostafrika, werden von Kunsthistorikern noch heute als „frei von jeder kolonialistischen Sichtweise“ (Bassenge 2018) eingestuft. Walter von Ruckteschell gilt in der Kunstgeschichte als Künstler, der “für Verständigung und Vertrauen zwischen den Völkern wirbt” (Unger-Richter) und Denkmäler „gegen den Rassenhaß“ (zit. nach Körber-Stiftung 2023) geschaffen habe.

 

Aus diesem Grund richtete die Stadt Dachau 2011 für den Maler und Bildhauer ein eigenes Museum ein. Die Ruckteschell-Villa war das einzige ehemalige Wohnhaus der einstigen Künstlerkolonie Dachau, das von Gästen besichtigt werden konnte. Bis 2021 waren die Porträts der Lettow-Mappe dort „wie zu Lebzeiten des Künstlers“ (Unger-Richter) zu sehen. Koloniale Kriegspropaganda wurde nicht durchschaut, die Behauptung von Freundschaft und Verbundenheit zwischen Kolonialherren und Kolonisierten geschichtsvergessen für bare Münze genommen und beim Besucherrundgang als künstlerischer Höhepunkt präsentiert.

 

Obwohl Historiker Heiko Möhle schon einige Jahre zuvor, anläßlich der Wiedererrichtung des Deutsch-Ostafrika-Kriegerdenkmals 2003 im Rahmen des geplanten 'Tansania-Parks' in Hamburg-Jenfeld, auf fehlendes Geschichtsbewußtsein aufmerksam gemacht und den ideologischen Zusammenhang zwischen Kolonialrevisionismus und Nationalsozialismus herausgestellt hatte, wurde der 'Afrikafreund' Walter von Ruckteschell ausgerechnet in Dachau, einem Ort, der aufgrund des ersten Konzentrationslagers wie kaum ein zweiter in Deutschland mit der Erinnerung an die nationalsozialistische Terrorherrschaft verbunden ist, jahrzehntelang zur „Ikone“ verklärt, „mit der sich die Stadt der Künstlerkolonie von ihrer NS-Vergangenheit abgrenzt“ (Helmut Zeller).

 

Das hat Anja Seelke beschäftigt.

 

100 Jahre nach dem Erscheinen der Lettow-Mappe fragt die Malerin nach den Geschichten hinter den Gesichtern und hat sich auf Spurensuche begeben. Ihre Ausstellung „Kwaheri Askari – Auf Wiedersehen, Askari'. Die Porträts der Lettow-Mappe in neuer Sicht“ ordnet die Porträts erstmals in den historischen Kontext ihrer Entstehung ein. Die Diskrepanz zwischen Propaganda und kolonialer Wirklichkeit führt sie zu anderen, neuen Bildern. Das Kunstprojekt wurde von der Stadt Dachau gefördert und wird seit 2021 als Beitrag zur Aufarbeitung der Kolonialgeschichte dauerhaft präsentiert.

 

Die Süddeutsche Zeitung schrieb:

"Nun gerät der liebgewonnene Mythos um den Künstler, der Dachau einen Hauch von Interkulturalität und Weltoffenheit verleiht, ins Wanken. Anja Seelke hat sich als Ruckteschell-Stipendiatin mit dem Leben des namensgebenden Bildhauers und seinen Werken auseinandergesetzt – und ihn als Kolonialisten und Rassisten entlarvt. Mit ihren Bildern begibt sie sich auf Spurensuche nach den Menschen, die Ruckteschell einst entmenschlicht hat. Die Lettow-Mappe ist ein Beispiel, wie dem kolonialen Blick, der noch heute unsere Sicht auf die Welt prägt, die Lebensrealität der Porträtierten und ihr inneres Wesen zum Opfer fallen. Dachaus Erinnerungskultur könnte eine tiefgreifende Erschütterung erfahren. Die Lebenslüge vom anderen Dachau."

Walter von Ruckteschell - Mustapha - 1921

Anja Seelke - Mustapha bin Mabruk - 2021

Walter von Ruckteschell - Hamiss - 1921

Anja Seelke - Hamiss - 2021

Walter v. Ruckteschell - Manangoma - 1921

Anja Seelke - Manangoma - 2021

Walter von Ruckteschell - Fatuma - 1921

Anja Seelke - Fatuma - 2021