Zyade nebere

Porträt eines Überlebenden

 

 

Südliches Eritrea. Seit Tsegay fünf Jahre alt ist, hütet er das Vieh auf der Weide. Nachts wird er von hungrigen Hyänen umzingelt. Gerade ist der Tigrinya 17 Jahre alt geworden. Es ist ein warmer Tag im April. Heute wird Tsegay das Land verlassen. Eingepackt hat er nichts. Zu Fuß wandert er mittags los – Richtung Süden. Sein Neffe bleibt bei den Tieren zurück. Von der Familie, den drei älteren Schwestern, seinem kleinen Bruder und seiner jüngsten Schwester hat er nicht Abschied genommen. Seine Eltern hätten den Ältesten nicht fortgelassen. Der Vater ist Soldat. Das will Tsegay unter keinen Umständen werden.

 

Die Grenze zu Äthiopien ist nah. Nach zweieinhalb Stunden Fußmarsch nehmen ihn äthiopische Soldaten fest. Sie bringen ihn in ein UNHCR-Camp. Für Tsegay ist es die erste Fahrt mit einem Auto. Ihm wird speiübel. Zehn Monate lebt er in Äthiopien, besucht die Schule und arbeitet als Maurer. Dann beschließt er, sich in den Sudan durchzuschlagen. Die Fahrt dauert fünf Tage. Er kann bei einem Freund wohnen und als Maurer arbeiten. Doch auf Dauer hier leben möchte er nicht. Tsegay will nach Europa.

 

Nach einem Monat besteigt er ein Auto nach Libyen. Die Fahrt führt durch die Sahara und dauert 7 Tage. Es ist eng. Tsegay hat Hunger, Durst, Angst. In Tripolis wird er mit Hunderten Anderer in eine Lagerhalle verbracht und von Schleusern terrorisiert. Raus kommt hier so leicht niemand. Zwei Monate ist Tsegay eingesperrt, Willkür und Gewalt ausgesetzt. Frauen werden vergewaltigt, Männer geschlagen. Es gibt nicht genug zu essen. Unter mangelnder Ernährung, schlechter Hygiene und Entkräftung stellen sich Hautkrankheiten und Durchfall ein. Menschen sterben. Die Schleuser erpressen das Geld für die Passage über das Mittelmeer. Sie zwingen die Eingesperrten dazu, unter der Folter Verwandte anzurufen. Nur wer bezahlt, darf raus.

 

Die Fahrt über das Meer dauert vier Nächte. Mit etwa 450 weiteren Menschen geht Tsegay an Bord eines Schiffes. Es ist überfüllt. Die Menschen sitzen dichtgedrängt und liegen übereinander. An Schlaf ist nicht zu denken. Als Brot ausgegeben wird, drängen alle auf einmal zur Ausgabestelle. Das Schiff bekommt schwere Schlagseite. Panik entsteht. Diesen Moment durchlebt Tsegay bis heute immer wieder.

 

Das Schiff landet in Italien. Tsegay betritt europäischen Boden. Erleichterung verspürt er keine. Er ist nur noch müde. Über Rom verläßt er – wieder mit Hilfe von Schleusern – das Land und reist im Zug nach Paris. Eine Nacht verbringt er auf der Straße, dann steigt er in einen Zug. Er will nach Norwegen. Ohne gültigen Fahrschein muß er bei der Fahrkartenkontrolle in Dortmund aussteigen und wird der Polizei übergeben. Er ist krank und kommt zunächst 2 Wochen in Quarantäne. Danach wird er in das Durchgangslager Friedland überstellt. Tsegay ist in Sicherheit. Es ist ein kalter Tag im Dezember 2014. Er hat überlebt.

 

Seit vier Jahren lebt Tsegay in Otterndorf, lernt Koch in einem Hotelbetrieb. Auch wenn die Flucht Vergangenheit ist, die Belastungen bleiben gegenwärtig. Der lange Weg von Afrika nach Otterndorf hat ihn verändert. Wenn Tsegay an Eritrea denkt, dann denkt er zuerst an seine Eltern.

 

"Es vergeht kein Tag, an dem man nicht das Wort ‚Flüchtling’ hört," sagt die Malerin Anja Seelke, 33. Stadtschreiberin, während ihres Aufenthalts in dem kleinen Landstädtchen an der Nordsee: "In Otterndorf leben Menschen aus Afrika. Ich frage mich, ob man hinter dem Wort "Flüchtling" den Menschen noch sehen kann? Wie fühlt sich ein Afrikaner in Hadeln?“ Samuel F. Fleiner, Kurator der "Re-Art: Afrika", wünschte sich ausdrücklich „Begegnungen auf Augenhöhe“ und begeisterte sich für Seelkes Porträtidee. Engagierte Flüchtlingshelfer vermittelten den Kontakt und begleiteten das Projekt. Im Atelier im Gartenhaus am Süderwall entstand das überlebensgroße Aquarell von Tsegay (Name geändert). Während der Porträtsitzung erzählte der junge Mann seine Erlebnisse, beinahe ungläubig sagte er am Ende: “Ich habe überlebt“.

Ihrem Bild gab die Malerin deshalb den tigrinisch-deutschen Titel „Zyade nebere – Porträt eines Überlebenden“. Den eindrucksvollen Weg des Eritreers hat die Stadtschreiberin nachgezeichnet. Auf der fröhlich-bunten RE-ART ließ der eher nachdenkliche Beitrag aufmerken. Anläßlich der Eröffnung ließ Schirmherr Michael Gahler, MdeP, in seinem Grußwort übermitteln, die Ausstellung sei getragen von „Achtsamkeit und Respekt“ und wolle „Interesse wecken am Umgang mit Menschen aus Afrika“. Anja Seelkes "Porträt eines Überlebenden" leistete dazu einen sichtbaren Beitrag.

Re-Art "Afrika" 2018.