Kick

 

 

Es gibt keine heile Welt. Das Heile können wir abschreiben.   

                                                                       Friedrich Dürrenmatt

 

Was geht ab?

Drei Figuren agieren schemenhaft und in uneindeutiger Körpersprache miteinander. Während die Person rechts einen Mann scheinbar wie zur Begrüßung umfaßt, greift sich der mit der Kapuze in den Schritt. Die seltsame Szene spielt in einem virtuellen, pulsierenden Lichtraum aus blauer Farbe, leicht konkav verzerrt – changierend zwischen Erinnerung oder Traum. Lediglich eine kleine gekachelte Fläche links deutet auf einen tatsächlichen, unwirtlichen Ort, aus dem das Geschehen wie ausgeschnitten wirkt. Ein Mensch befindet sich in den Händen anderer. Noch scheint nicht klar, was geschieht.

 

Karsamstag 2011. In der U-Bahn-Station Berlin Friedrichstraße treffen Abiturient Torben (18) und sein Freund Nico auf einen Wartenden: Markus P. (29). Nach kurzer Provokation und Rangelei reißt Torben Markus zu Boden und tritt mehrfach auf den Kopf des Wehrlosen ein. Eine Überwachungskamera filmt den „U-Bahn-Treter“. Die irrationale Tat löst deutschlandweit Entsetzen aus.

Dynamisch, mit ausgebreiteten Armen und wie ein Tänzer holt im Zentrum eines zweiten Bildes der Täter über seinem reglosen Opfer Schwung für seinen Tritt. Die Gestalten sind in einen bodenlosen, inneren Raum gebannt, der unmerklich aus dem Lot kippt: rätselhaft verbunden und entzweit zugleich. Die monumentale Komposition wird aus Kreuz und Pfeil gebildet, Spannung und Expressivität werden von Signalfarben markiert. Das Geschehen schwebt – eine Chiffre des Zwiespalts in Schwarz und Weiß. Die Zeit steht still.

Kain erschlug Abel. Assoziationen und Urbilder der Menschheit drängen sich auf. Ist das der Mensch? Triebgesteuert, mit der Lust an Gewalt und Zerstörung? Sich und andern ein Kreuz?

Über das Abbildliche einer konkreten Situation hinaus fragt „kick“ nach dem Zustand des Menschen und zeigt ihn – jenseits von Idealisierungen – in seiner Widersprüchlichkeit zwischen Lust und Leid.

Torben hat aus „Streitlust“ gehandelt. Markus hat überlebt. Das Gericht hat ein Urteil gefunden. Der Abgrund bleibt.

 

Carl-Fritz Fitting, Präsident des Landgerichts Stade, wies angesichts der aktuellen Nachrichten über den Anstieg von Gewalttaten in unserer Gesellschaft in seiner Ansprache zur Eröffnung der 'Kleinen Galerie im Historischen Rathaus' der Stadt Stade, darauf hin, wie „aktuell und wichtig die Bilder genau an dieser Stelle“ seien.